„Jede Geschichte zählt“

„Jede Geschichte zählt“
Erinnerung auf Augenhöhe: (von links) Jörg Witte, Jonathan Gerzon, Gideon Gerzon und Dietmar Schütz weihten das Erinnerungszeichen an der Bremer Straße 32 ein. Foto: Sascha Stüber

„Jede Geschichte zählt“

Oldenburg. Es waren fünf Menschen unter den sechs Millionen Opfern des Holocaust: Lilli und Georg Gerson, ihr Sohn Paul Gerson sowie Lilli Gersons Eltern Klara und Philipp Cohen – umgekommen in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten. Ihre Namen zieren jetzt eine Wandtafel an der Fassade des Hauses an der Bremer Straße 32 in Oldenburg. Hier hatte die jüdische Familie bis 1935 gewohnt. Zu ihnen gehörte auch der zweite Sohn Peter, der als einziges Familienmitglied die Torturen der Nazis überlebt hatte. Eingeweiht wurde das „Erinnerungszeichen“ am Mittwochmittag. Zuvor fand im Alten Rathaus ein Empfang statt. Dazu begrüßten Oberbürgermeister Jürgen Krogmann und der Initiator der Oldenburger Erinnerungszeichen und Vorsitzende der Oldenburger Bürgerstiftung, Dietmar Schütz, Gäste aus Israel: Gideon und Jonathan Gerzon. Die beiden mit ihren Familien angereisten Brüder sind Peter Gersons Söhne.

Gedenken auf Augenhöhe

Das Schicksal der Familie Gerson, die ihren Namen im neuen Staate Israel in Gerzon änderte, stand am Mittwoch stellvertretend für weitere jüdische Opfer von NS-Verbrechen. An den einstigen Wohnorten dieser Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet worden sind, wurden bisher auf Initiative der Bürgerstiftung zehn sogenannte Erinnerungszeichen installiert. Weitere folgen nun in den nächsten Wochen – insgesamt 32 sollen es werden. Die Erinnerungszeichen stehen gut sichtbar – entweder als Stele auf öffentlichem Grund oder als Wandtafel an der Hausfassade – und enthalten Namen, Lebensdaten, Angaben zum Schicksal sowie Bilder der Opfer. Der neue Ansatz: Im Gegensatz zu den bekannten Stolpersteinen sind die Erinnerungszeichen bewusst auf Augenhöhe angebracht. „Die Erinnerungszeichen zeigen, dass jede einzelne Geschichte zählt – und dass jede einzelne auf ihre Weise ein Dokument für die Unmenschlichkeit des NS-Staates ist“, sagte Oberbürgermeister Jürgen Krogmann. „Es ist wichtig, dass wir unser Wissen an die jüngere Generation weitergeben, damit sich Geschichte nicht wiederholt.“

Erinnerung schafft Identität

In Oldenburg werden die Erinnerungszeichen von der Stadt und der Oldenburger Bürgerstiftung in enger Zusammenarbeit mit dem Verein Werkstattfilm installiert. Oldenburg orientiert sich dabei am Vorbild von München und Ingolstadt, die diese Form der Erinnerungskultur und des öffentlichen Gedenkens als erste Städte etabliert haben. Den Kontakt nach München hatte die Bürgerstiftung geknüpft. Sie finanziert die Anfertigung der Erinnerungszeichen durch Spenden der Oldenburgerinnen und Oldenburger. „Die Erinnerungszeichen bringen die Namen und Biografien der Frauen, Männer und Kinder, die in der NS-Zeit ums Leben gekommen sind und hier in Oldenburg Freunde, Bekannte und Nachbarn gehabt haben, in das Gedächtnis der Stadt zurück. Ohne Gedächtnis und Erinnerung kann keine Gesellschaft funktionieren. Sie geben Identität und Orientierung“, betonte Dietmar Schütz, Vorsitzender der Bürgerstiftung und Oberbürgermeister a.D. In seiner Ansprache hob Schütz auch das Engagement von Jörg Witte hervor. Der ehemalige Lehrer des Alten Gymnasiums Oldenburg habe in besonderer Weise dazu beigetragen, das Schicksal der Familie Gerson zu recherchieren und die Erinnerung wach zu halten.

Peter Gersons Geschichte

Der 1925 in Oldenburg geborene Peter Gerson ist 2014 in Israel verstorben. Die 1938 in die Niederlande emigrierte Familie wurde von den Nazis in Vernichtungslager deportiert. Sein Bruder Paul und seine Mutter Lilli wurden in Auschwitz ermordet. Peter Gerson und sein Vater Georg wurden nach Kaufering, einem Außenlager des KZ Dachau gebracht. Während Georg Gerson die Qualen der Zwangsarbeit nicht überlebte, glückte Peter im April 1945 die Flucht bei einem Zugtransport. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang ihm die Einreise nach Palästina. Er kämpfte im neugegründeten Staat Israel als Soldat an der syrischen und libanesischen Grenze, arbeitete nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges als Elektriker und ließ sich später als Kraftwerksingenieur mit seiner Familie in Ashdod nieder.

Sein Sohn Gideon Gerzon zeigte sich am Mittwoch im Rahmen des Rathaus-Empfanges tief beeindruckt vom Oldenburger Engagement und dankte der Stadt und der Bürgerstiftung: „Dass meine Familie auf diese Weise geehrt wird, hat eine besondere Bedeutung für uns.“