„Die Rolle der Verwaltungsjustiz in der Corona-Pandemie“

„Verwaltungsjustiz hat in der Corona-Pandemie schnell geurteilt“
Tauschten sich beim IHK-Mittagsgespräch über die Corona-Maßnahmen aus (v.r.): Dr. Alexander Weichbrodt, Vorsitzender Richter am Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in Lüneburg, und IHK-Vizepräsident Heiner Koch (Bildquelle: IHK/Hermann Pentermann).

„Die Rolle der Verwaltungsjustiz in der Corona-Pandemie“

„Bei den Corona-Maßnahmen ist die Politik hierzulande immer wieder übers Ziel hinausgeschossen. Allzu oft regierte uns ein Team Übervorsicht“, sagte IHK-Vizepräsident Heinrich Koch in seiner Begrüßung zum hybrid durchgeführten IHK-Mittagsgespräch mit Dr. Alexander Weichbrodt, Vorsitzender Richter am Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht (OVG) in Lüneburg und dort bis Ende 2021 mit der rechtlichen Beurteilung auch der niedersächsischen Corona-Maßnahmen befasst. „Dass Deutschland die Corona-Pandemie besser bewältigt hätte als andere Staaten, ist leider auch nicht richtig“, so Koch. Dies zeige sich u. a. an der langsameren wirtschaftlichen Erholung im internationalen Vergleich mit Ländern wie den USA oder den Niederlanden. Schließlich sei bei politischen Entscheidungen mitunter die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt gewesen. Dies habe dann die Verwaltungsgerichte auf den Plan gerufen.

Welche Rolle die Verwaltungsjustiz in der Corona-Pandemie im Einzelnen spielte, betrachtete Weichbrodt in einem persönlichen Rückblick auf die vergangenen zwei Jahre. „Wie für alle anderen, die Bürger, Unternehmen und Behörden, war auch für die Verwaltungsjustiz in der Corona-Pandemie nicht alles, aber doch vieles ganz anders.“

Da auch das Land Niedersachsen die Infektionsschutzmaßnahmen weit überwiegend durch Rechtsverordnung angeordnet habe, sei der Rechtsweg unmittelbar zum OVG in erster Instanz eröffnet gewesen. Während man vor der Corona-Pandemie etwa zwei bis drei infektionsschutzrechtliche Verfahren im Jahr entschieden habe, seien von März 2020 bis Dezember 2021 mehr als 600 Verfahren eingegangen, davon mehr als 400 Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz. „Gleichwohl haben wir es in den allermeisten Verfahren geschafft, über einen rechtzeitig gestellten Eilantrag auch vor dem Außerkrafttreten der angefochtenen Verordnung zu entscheiden. Denn gemeinhin – und hier noch viel mehr – gilt: Nur schnelles Recht ist gutes Recht.“ Die durchschnittliche Verfahrensdauer im Infektionsschutzsenat habe für Corona-Eilverfahren nur bei neun Tagen gelegen. „Teilweise waren wir noch schneller: Über das Feuerwerksverbot 2020 wurde binnen drei Tagen und über die 2G-Regelung im Einzelhandel binnen vier Tagen entschieden.“
„Dabei waren die Verwaltungsrichter von dem Streitstoff, den sie zu entscheiden hatten, nahezu durchgehend selbst betroffen. Es gab keine sonst übliche Distanz zum Fall in der Gerichtsakte. Beispielsweise Kontaktbeschränkungen, Abstandsgebot und Maskenpflicht betrafen den Menschen in der Robe genauso wie jeden anderen Bürger.“

Siehe auch  Teil-Lockdown: Erste Zahlungen aus der Novemberhilfe fließen

Eine besondere Herausforderung sei gewesen, tatsächliche Erkenntnisse zur Verbreitung des Coronavirus und zur Geeignetheit und Effektivität konkreter Infektionsschutzmaßnahmen zu erlangen und zu überprüfen. „Mit tatkräftiger Hilfe der Gerichtsleitung haben wir uns einen wissenschaftlichen Mitarbeiter aus dem medizinischen Bereich gesucht und auch schnell gefunden, der für ganz konkrete Fragen aus einzelnen Verfahren die wissenschaftlichen Studien durchgesehen und für den Senat aufbereitet hat. Für die Sachaufklärung und die tatsächliche Erkenntnis war das ein enormer Gewinn.“

Hinzu seien grundlegende, bis dahin in der Rechtsprechung zum Infektionsschutzrecht unbeantwortete rechtliche Fragen gekommen. „Die Besonderheit war: erstmals bei Corona hatten die Maßnahmen flächenhafte Massenwirkung. Mit wenigen Regelungen einer Rechtsverordnung wurde in die private Familie, in das soziale Miteinander und ganz erheblich in betriebliche und unternehmerische Angelegenheiten eingegriffen, und zwar in einer Tiefe und auch einer Dauer, die bis dahin unerreicht war.“ Ein wichtiger Prüfpunkt für die Verwaltungsgerichte sei dabei – wie regelmäßig in Verwaltungsrechtsstreiten – die Verhältnismäßigkeit der hoheitlichen Maßnahmen gewesen. Diese sei ganz überwiegend gewahrt worden; die 2G-Regelung im Einzelhandel, aber auch die Ausgangssperre in der Region Hannover und das Beherbergungsverbot seien aber als unverhältnismäßig angesehen worden. Die an diesen Entscheidungen geäußerte, häufig wenig sachliche Kritik – insbesondere die Bezeichnung als „kleine Richterlein“ durch den Weltärztepräsidenten – habe man selbst gelassen eingesteckt. Eine Ursache für diese Kritik dürfte die Fehlvorstellung gewesen sein, dass im politischen Raum abgestimmte, aber letztlich nicht durch Gesetz, sondern durch exekutive Rechtsverordnungen getroffene Infektionsschutzmaßnahmen, nur einer eingeschränkten Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte unterlägen.
Als durchaus kritisch erachtete Weichbrodt die weitgehend fehlende fachgerichtliche Richtigkeitskontrolle im vorläufigen Rechtsschutz. In den sog. Normenkontrolleilverfahren gegen die Niedersächsischen Corona-Verordnungen entscheide das OVG als einzige Instanz. Diese Entscheidungen seien sowohl für den Bürger als auch für die Verwaltung unanfechtbar. Eine Überprüfung durch das Bundesverwaltungsgericht erfolge erst in späteren Hauptsacheverfahren. Weichbrodts Fazit: „Zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie und auch zur Vorbereitung auf noch kommende Krisen und staatliche Kriseninterventionen halte ich die Führung solcher Verfahren für unerlässlich. Ich hoffe sehr darauf, dass es sie geben wird und dass sie zur weiteren Klärung von Verantwortlichkeiten und auch von rechtlichen Grenzen für staatliche Schutzmaßnahmen führen werden.“

Siehe auch  60 Jahre Flutkatastrophe 1962: Ein Interview mit den Küstenschutzexperten Anne Rickmeyer und Jörn Drosten (NLWKN)

Pressemeldung von  Industrie- und Handelskammer Osnabrück – Emsland – Grafschaft Bentheim