Retter durch Gezeiten und Zeiten

Seit mehr als 160 Jahren auf See im Einsatz: Die Seenotretter aus Bremerhaven
Hält den Maschinenraum in Schuss: Maschinist Olaf Eimert. Foto: Stop press/Helmut Stapel

Zehn Meter hohe Wellen, Orkanböen, Temperaturen um den Gefrierpunkt – die „Hermann Rudolf Meyer“ fährt raus, wenn an Land sicherheitshalber die Rollläden runtergelassen werden.  Der Seenotrettungskreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) ist in Bremerhaven stationiert und markiert damit gleichzeitig die Gründungphase der maritimen Hilfsorganisation vor 160 Jahren. In der Seestadt gab es bereits einen Verein zur Rettung Schiffbrüchiger, bevor die DGzRS gegründet wurde.

„Wie viele Menschen in Seenot wir von hier aus schon gerettet haben?  Ganz ehrlich, keine Ahnung“, sagt Timo Wieck und zuckt mit den Schultern. Der 1. Vormann der „Hermann Rudolf Meyer“ sitzt mit seinem roten Overall und der Kaffeetasse in der Hand im Kommando-Stuhl auf der Brücke des Seenotrettungskreuzers. Er blickt über das sonnenglitzernde Wasser des Vorhafens an der Fischereihafen-Doppelschleuse. Von diesem Liegeplatz startet das 23 Meter lange Schiff zu seinen Einsätzen auf der Außenweser und in der Deutschen Bucht. Gerade erst haben sie eine leckgeschlagene Motoryacht vor dem sicheren Untergang bewahrt. „Jede Schiffshavarie verläuft anders. Ein Bild können wir uns immer erst vor Ort machen und dann ist jeder hier an Bord voll dabei. Für eine Strichliste ist da keine Zeit. Nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz.“

Zwei Wochen rund um die Uhr im Dienst

Vier Männer sind auf dem Seenotrettungskreuzer im Einsatz und das rund um die Uhr im Zwei-Wochen-Wechsel. Geht über die Rettungsleitstelle See in Bremen ein Notruf ein, muss alles blitzschnell gehen. „In zwei bis drei Minuten sind wir tagsüber startklar“, nickt Timo Wieck. „Brücke besetzen, Landstromverbindung kappen, Maschine hochfahren, Leinen los, Deck klarmachen – wir sind an Bord ein eingespieltes Team und arbeiten Hand in Hand.“ Nachts kann es schon mal fünf Minuten dauern. „Dann müssen die Jungs ja erst mal die Augen aufmachen und in ihre Overalls springen“, schmunzelt der 1. Vormann. Er selber hat das Funkgerät und das Telefon immer griffbereit neben seiner Koje liegen.

Siehe auch  Ein neues Kreuz zum Jubiläum

„Hektik können wir hier nicht gebrauchen“

Olaf Eimert ist in diesen Momenten der „Zündfunke“. Der Maschinist an Bord sorgt für einen möglichst schnellen Start des Schiffdiesels. Unten im Maschinenraum blitzen die Armaturen, Leitungen und Motoren. Selbst der beidseitige Stahlhandlauf an der steilen Treppe von Deck hierunter hat keinen einzigen Fleck. Feuerwehreinsatz mit festem Handgriff am Stahlrohr und Runterrutschen an der Treppe? „Nein“, schüttelt der Maschinist den Kopf. „Immer alles ganz in Ruhe und Stufe für Stufe die Treppe runter, selbst im Einsatz. Hektik können wir hier nicht gebrauchen.“ Der blitzeblanke Maschinenraum hat neben der guten Materialpflege einen ganz anderen und vor allem wesentlichen Grund.

„Sobald der Schiffsdiesel läuft, bin ich mit oben an Deck. Da wird jede Hand gebraucht. Die Maschine wird von der Brücke aus überwacht. Wenn da zum Beispiel ein Ölleck angezeigt wird, muss ich hier runter und sofort sehen, wo der Ölaustritt ist“, erklärt Olaf Eimert. „Da ist keine Zeit, erstmal schlau mit dem Putzlappen in der Hand auf die Suche zu gehen.“ 23 Knoten Fahrt macht die „Hermann Rudolf Meyer“ bei Vollgas, gut 43 Stundenkilometer. „Für ein 29 Jahre altes Schiff ist das ordentlich.“

Verletzte und Kranke auf Fracht- oder Kreuzfahrtschiffen, Maschinenschäden, auf Grund gelaufene Segelschiffe – wenn die „Hermann Rudolf Meyer“ mit rauschender Bugwelle auf die Weser raus jagt, kommt es auf Geschwindigkeit an. „Je eher wir am Einsatzort sind, desto besser. Nicht jeder Mensch kommt mit Notfallsituationen gleich klar. Wenn in steiler Brandung bei Sturm eine havarierte Segelyacht auf der Sandbank langsam in Stücke zerschlagen wird, da klammert sich der Skipper schon mal am Mast fest und will unter keinen Umständen loslassen“, erzählt Timo Wieck, der seit 2002 bei der DGzRS aktiv ist. Aber auch für solche Situationen hat die DGzRS im Laufe der vergangenen 160 Jahre eine Lösung entwickelt: das Tochterboot.

Siehe auch  Bremerhaven

„Wer nicht mehr aufpasst, macht Fehler“

Am Heck eines jeden Seenotrettungskreuzers liegt dieses Mini-Einsatzboot parat und kann blitzschnell ins Wasser gelassen werden. Mit nur 80 Zentimeter Tiefgang und der leistungsstarken Maschine kommt das Boot mit seinen zwei Mann Besatzung fast überall hin. „Da pflücken wir im Ernstfall auch schon mal jemanden direkt vom Mast, wenn es nicht anders geht“, so der 1. Vormann. Was sich wie ein Spaziergang anhört, erfordert Mut, Umsicht, Entschlossenheit und Erfahrung. „Nur Routine brauchen wir hier nicht. Wer nicht mehr aufpasst, macht Fehler und das kann auf dem Meer fatal sein.“

Die Ausbildung zum Seenotretter dauert zwei Jahre

Sebastian Kernich ist aktuell dabei, diese Erfahrungen zu machen – als sogenannter „Laufbahner“. Am Ende der zweijährigen Ausbildung ist der 28-Jährige ein vollwertiges Mitglied der DGzRS. Ein Jahr hat er bereits hinter sich. „Rettungssanitäter, Schiffspatent, Nautik, Funk, Schiffskenntnisse von A bis Z – da ist jede Menge“, zählt er auf. An diesem Vormittag hat er sich intensiv der Pflege des Tochterbootes „Christian“ gewidmet. Kein Wunder, immerhin ist Kernich im Einsatzfall der Schiffsführer des Mini-Rettungskreuzers. Wenn er das nicht macht, kümmert er sich um die Aktualisierung von Seekarten des teils tückischen Weserreviers, Tauwerk an Deck oder auch mal das Essen in der Kombüse. Aktuell hat Maschinist Eimert das übernommen: „Immer reihum, immer reihum – hier macht jeder fast alles“, lacht er und rührt das China-Geschnetzelte im Topf ein letztes Mal um.

Es ist Mittagszeit auf der „Hermann Rudolf Meyer“. Alle kommen in der kleinen Messe am Mehrzwecktisch zusammen. „Wenn wir Verletzte an Bord nehmen, liegen die hier auf dem Tisch und werden medizinisch versorgt“, erzählt Timo Wieck. „In der Seefahrt und speziell bei der Seenotrettung ist alles immer praktisch. Hauptsache, wir erreichen unser Ziel.“ Bei der DGzRS ist das seit 160 Jahren die Rettung von Menschen aus Seenot und Bremerhaven hat dabei neben Emden schon vor der Gründung der eigentlichen Gesellschaft im Jahr 1865 eine maßgebliche Rolle gespielt.

Siehe auch  Hochschule Bremerhaven verlängert Bewerbungsfrist für das Sommersemester

Selbstlose Männer steigen bei tosender See ins Ruderboot

Bereits 1864 gab es in der Seestadt einen Bootsschuppen mit Ruderrettungsboot, in dem selbstlose Männer bei tosendem Sturm rausgerudert sind, um unter Einsatz ihres eigenen Lebens Menschen aus Seenot zu retten. Der nachfolgende Backstein-Bootsschuppen von 1917 neben dem heutigen Liegeplatz der „Hermann Rudolf Meyer“ zeugt davon – bewegte Küstengeschichte zum Anfassen, die ihre Wurzeln in der Gründung des bremischen Vereins zur Seenotrettung im Jahr 1863 hat. Macht es stolz, für eine solche Organisation zu arbeiten, die sich ausschließlich über Spenden und gesellschaftlichen Einsatz finanziert? Timo Wieck überlegt, setzt kurz die Gabel mit dem dampfenden Essen ab. „Diesen Job hier macht man nicht, weil man stolz ist, sondern weil man davon überzeugt ist.“